seit dem 01.11.2004

Wolfgang Moers

Der Autor:

W. Moers, geb. 1957, Schriftsteller, Comiczeichner und Drehbuchautor. Er erfand die Figuren »Käpt''n Blaubär« und »Kleines Arschloch«. Moers lebt z. Zt. in Hamburg.

 

einige Bücher:

Die 13 1/2 Leben des Käpt’n Blaubär

Wilde Reise durch die Nacht

Ensel & Krete.. ein Märchen aus Zamonien

 

Leseprobe aus : Wilde Reise durch die Nacht

(Mehr zum Buch: http://www.wilde-reise.de)

Beschreibung:
An Bord der Aventure segelt der zwöfjährige Gustave Doré durch die Nacht, als ein Siamesischer Zwillingstornado hereinbricht und das Schiff zerstört. Während es sinkt, steigen der Tod und seine verrückte Schwester Dementia herab, um Gustaves Seele zu holen. Dem Jungen gelingt es, mit dem Sensenmann eine Wette abzuschließen: Wenn er es schafft, bis zum Ende der Nacht sechs schier unlösbare Aufgaben zu bewältigen, dann darf er weiterleben und seine Seele behalten. Das ist der Anfang einer wahnwitzigen wilden Reise durch die Nacht....

Und hier beginnt dann seine erste Aufgabe...

Gustave bemerkte zunächst drei einschneidende Veränderungen. Erstens: Er befand sich nicht mehr in der Gesellschaft des Knochenmannes und der Wahnsinnigen auf dem sinkenden Schiff, sondern hoch in den Lüften. Zweitens: Er trug eine silberne Rüstung, einen Helm auf dem Kopf und eine Lanze in der Hand. Drittens: Er ritt auf einem Geschöpf, welches zum Teil ein Löwe, zum Teil ein Pferd und zum Teil ein Adler zu sein schien.
“Um deiner Frage zuvorzukommen”, sagte das Geschöpf, “ich bin ein Greif. Ich habe die Aufgabe dich zur Insel der gepeinigten Jungfrauen zu bringen. Genaugenommen sind wir schon da.”
Unter ihnen erstreckte sich eine liebreizende Frühlingslandschaft, Gustave sah wilde saftige Wiesen voller Blumen, schattenspendende Baumgruppen und einen glasklaren Bach. Junge Elstern und andere Kleinvögel kreisten aufgeregt über dem Ufersaum und schnäbelten nach fliegenden Insekten.
“Bist Du ein Diener des Todes?” fragte Gustave.
“Sind wir das nicht alle?” gab der Greif düster zurück.
Sie flogen eine Weile schweigend dahin.
“Wo sind denn die Jungfrauen?” fragte Gustave schließlich.
“Keine Angst”, seufzte der Greif. “Du kriegst deine Jungfrauen schon noch früh genug zu sehen. Ich wollte erst mal ein paar Runden über dem jungfrauenfreien Teil der Insel drehen. Zur Erholung, dachte ich. Du bist schließlich gerade einem Siamesischen Zwillingstornado, einem sinkenden Schiff, dem Wahnsinn und dem Strick entkommen.”
“Vielen Dank!” sagte Gustave. “Das ist sehr aufmerksam.”
“Schon gut. Ich muß zugeben, das ich dabei auch ein wenig an meinen eigene Schonung dachte...” gestand der Greif. “Ich habe den Auftrag, dich bei der Befreiung der Jungfrau aus den Klauen des Drachen nach Kräften zu unterstützen.”
“Das ist gut. Ich habe nämlich noch nie eine Jungfrau aus den Klauen eines...”
“Ich auch nicht!” unterbrach Ihn der Greif mit bekümmerter Stimme, “ich auch nicht!”
Dann schlug er gewaltig mit den Schwingen, das die Luft in Gustaves Ohren nur so rauschte. Schnell stieg das merkwürdige Gespann in die Höhe.
“Gehen wir’s an! Je früher wir es hinter uns haben, desto besser.” Der Greif ging plötzlich so dramatisch in Schräglage, das Gustave sich mit aller Macht im Gefieder festklammern mußte, um nicht vom Gewicht seiner Rüstung in die Tiefe gerissen zu werden.
“Wir müssen in die Küstenregion, da treiben sich die meisten Jungfrauen rum. Sie sind da, weil dort auch die meisten Drachen verkehren.”
“Sollten sie sich dann nicht lieber im inneren Teil der Insel aufhalten?”
“Versteh einer die Weiber!” gab das Mischwesen zurück.
Gustave konnte in der Ferne schon das Meer glitzern sehen. Die Sonne stand hoch, und die Luft war warm und klar.
“Wieso ist es jetzt eigentlich Mittag? Und so warm?” fragte Gustave.
Eben auf dem Schiff war es noch tiefe Nacht.
“Hier ist es immer Mittag”, erläuterte der Greif. “Immer Sommer. Wegen der Jungfrauen.”
“Verstehe ich nicht.”
“Na, damit es immer schön beheizt ist. Die Jungfrauen sind doch so gerne nackt.”
“Die Jungfrauen laufen hier ohne Kleider herum?” japste Gustave.
Der Greif wendete den Kopf zu seinem Passagier und kniff verschwörerisch ein Auge zu.
“Mehr oder weniger”, sagte er. “Wo es doch so warm ist.” Als sie den Küstensaum erreicht hatten, flog der Greif eine leichte Rechtskurve, spreitzte die Schwingen und ließ sich von der leichten Meeresbrise am Felsgestade entlangtragen. Gustave sah nur jäh abfallende Klippen unter sich und schäumend dagegen anrennende grüne Wellen. Ab und zu eine kleine Bucht, ein schmaler Sandstrand, dann wieder Felsen, Felsen, Felsen.
"Wo sind denn die Jungfrauen?" fragte er ungeduldig.
"Da sind sie, deine Jungfrauen", seufzte der Greif, "Da vorne rechts - und fall mir ja nicht aus dem Sattel!"
Gustave konnte zunächst nur helle Flecken auf den Klippen warnehmen, die er für nistende Möwen hielt, aber als sie näher kamen, erkannte er immer deutlicher, daß es eine ganze Schaar junger Mädchen war.
Und sie schienen tatsächlich alle nur spärlich bekleidet und von ausnahmslos schönem Wuchs zu sein. Einige hatten gerade einmal ein Hüfttuch umgeschlungen oder einen Kopfschmuck angelegt, manche waren sogar vollkommen nackt. Gustave keuchte.
"Immer schön festhalten", rief der Greif. "Nicht die Nerven verlieren."
"Hilfe!" riefen die Mädchen. "Hilfe! So helft uns doch!" und sie lachten und kicherten dabei und knufften sich gegenseitig mit den Ellenbogen.
"Laß dich nicht veräppeln", empfahl der Greif. " Das sind unbelindwurmte Jungfrauen. Uninteressant für uns."
"Das nennst du uninteressant?"ächzte Gustave. "Wieso tragen sie denn Waffen?"
"Na, wegen der Drachen. Sie jagen sie."
"Die Jungfrauen jagen Drachen? Ich dachte es wäre umgekehrt."
"Ach was! Die Jungfrauen jagen die Drachen, erlegen sie mit Ihren Speeren und essen sie dann. Und nicht nur das - sie verwerten den kompletten Lindwurm! Er wird gehäutet, in Stücke geschnitten, gekocht und eingesalzen. Aus dem Lindwurmtran machen sie Sonnenschutzcreme - du weißt ja: immer Mittag, immer Sommer. Aus den Schuppen machen sie Kämme, aus den Zungen Zungenwurst. Sie verarbeiten sogar die Augen! Die kochen sie in...."
"Hör auf!" rief Gustave. "Aber wieso heißt die Insel dann die Insel der gepeinigten Jungfrauen? Sie machen keinen sehr gepeinigten Eindruck."
"Na, den Namen haben sich die Jungfrauen selber ausgedacht! Stell dir vor, sie hätten die Insel der drachenfressenden Jungfrauen genannt. Oder die Insel der lindwurmverarbeitenden Amazonenindustrie!" Der Greif lachte heiser. "Dann kämen hier doch keine wagemutigen Jünglinge mehr hin, um Jungfrauen aus den Klauen von Drachen zu befreien. Kapiert?"
"Aber du hast doch gerade gesagt, das die Jungfrauen die Drachen..."
"Ja, aber ab und zu gelingt es schon einem Drachen, den Spieß umzudrehen. Eine Jungfrau verläßt die Jagdmeute, verliert ihren Speer oder sowas - und ausgerechnet in diesem Moment kommt gerade ein Lindwurm vorbei! Die blöden Drachen machen auch immer ein Riesentrara darum, wenn ihnen das mal gelingt, sie ketten die Jungfrau dann tagelang an irgendeinen Felsen, protzen bei ihren Kumpels damit, posaunen es in alle Welt - anstatt, wenn sie clever wären, die Kleine einfach zu verputzen. Oder Saft draus zu machen, wie sie es mit ihnen gemacht hätte." Der Greif seufzte.
"Und prompt kommt auch schon irgend so ein Rotzlöffel in einer schimmernden Rüstung daher - entschuldige, das geht jetzt nicht gegen dich! -, der ihnen den Garaus macht. Diese Insel sollte Insel der gepeinigten Lindwürmer heißen, wenn du meine Meinung hören willst. Es soll sogar vorkommen, daß die Drachen von den Jungfrauen gezähmt werden, wegen der zur Hautalterungsbekämpfung so begehrten Drachenmilch."
"Das hört sich so an, als wäre es gar keine große Sache, so einen Drachen zu töten."
"Ist es auch nicht. Wir fliegen hin, ihr pflaumt euch gegenseitig ein bisschen an, der Drache und du, er versucht dir den Kopf abzubeißen, und bei der Gelegenheit jubelst du ihm deine Lanze in den Hals. Kinderspiel. Aber darum geht es auch gar nicht bei deiner Aufgabe."
"Sondern? Worum geht es denn dann?"
"Sag ich nicht. Darf ich nicht. Wirst du schon selber rauskriegen."
"Juhu!" riefen die schönen Damen. "Hilfe" So helft uns doch!" Und sie kicherten und lachten wieder und prusteten in ihre vorgehaltenen Hände.
Gustave konnte die Augen von dem ungewöhnlichen Anblick nicht abwenden. "Und wenn sie tatsächlich Hilfe brauchen?"
Der Greif tat nur ein paar energische Flügelschläge, und die Jungfrauen waren sehr bald wieder zu jener Ansammlung heller Punkte geschrumpft, die auch eine Möwenkolonie hätte sein können. Gustave verrenkte sich beinahe den Hals bei dem Versuch, einen letzten Blick auf sie zu erhaschen.......

 

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